SONNE Social Healthcare Days – kultursensible Gesundheitsbildung in Myanmar mit Birgit Phillips
Im Februar 2018 durfte ich für SONNE-International in den Förderzentren in Yangon und Umgebung kultursensible Gesundheitsbildungs-Workshops zu einer Reihe verschiedener Themen abhalten: Von Problemen der Mangel- und Fehlernährung über armutsbedingte Krankheiten bis hin zu sexuell übertragbaren Krankheiten, Menstruationshygiene, Pubertät und Familienplanung. Zielgruppe der Workshops waren nicht nur die Eltern und Kinder, sondern insbesondere die SozialarbeiterInnen und LehrerInnen vor Ort, die diese Themen nun in ihrer täglichen Arbeit mit den Kindern aufgreifen können.
Über die Arbeit von SONNE-International wurde in den Blogs ja schon sehr viel berichtet, aber alles vor Ort zu sehen ist eine Erfahrung, die über das rein Kognitive hinausgeht, alle Sinnesorgane ergreift und von Emotionen begleitet wird. Ein Beispiel: Gleich am ersten Tag nach meiner Ankunft betrat ich eine Schulklasse und wurde von einem Gefühl der Verwirrung überrollt. Ich war mit der Information nach Myanmar gereist, dass die Kinder in den Förderzentren im schulreifen Alter sind, also mindestens 6 oder 7 Jahre und älter. Die Kinder, die ich sah, wirkten eher wie 3 oder 4 Jahre – ich war der Meinung, das gut abschätzen zu können, da mein eigener Sohn gerade 5 Jahre alt ist. Die Fotos von den Kindern mit ihren rundlichen Gesichtern täuschen allerdings sehr oft, wie ich selbst feststellen musste: Die Kinder sind nämlich tatsächlich im schulreifen Alter, nur eben kleinwüchsig und zum Teil sehr unterernährt und (kognitiv) unterentwickelt. Ich wusste natürlich über diese Problematik Bescheid und hatte auch einen ganzen Workshop daraufhin ausgerichtet, aber die kleinen Stöpsel dann vor Ort zu sehen, war dann doch erschütternd. Das Ausmaß der Problematik wurde mir dadurch noch einmal viel bewusster.
Ein Schwerpunkt der Workshops und auch eine der Hauptmotivationen für dieses Unterfangen lag für mich vor allem bei der Stärkung der Mädchen und Frauen, weshalb mir Bewusstseinsbildung zu Themen wie Pubertät, Menstruationshygiene, Familienplanung und sexuell übertragbare Krankheiten besonders am Herzen lag. Diese Themen werden in Myanmar gesellschaftlich stark tabuisiert und waren deshalb nicht zuletzt auch für meine Dolmetscher öfters eine Herausforderung (oft konnten sie sich das Kichern oder Schmunzeln nicht verkneifen). Ein großes Problem in Myanmar, und speziell in Yangon, sind auch sexuell übertragbaren Krankheiten, insbesondere HIV: Prognosen zufolge wird Myanmar in naher Zukunft Thailand als Land mit der höchsten Rate an HIV Neuinfektionen ablösen.
Ein weiteres, massives Problem in Myanmar sind die unzähligen Vergewaltigungen, die an der Tagesordnung stehen und im schlimmsten Fall mit dem Tod enden. Erst wenige Tage vor meiner Ankunft in Yangon wurde eine junge Studentin von einem Taxifahrer vergewaltigt und brutal ermordet. Eine Sozialarbeiterin von SONNE, mit der ich jeden Tag mit dem öffentlichen Bus ins Büro fuhr, wollte nach Einbruch der Dunkelheit die 2 Minuten vom Büro zur Bushaltestelle auch zu zweit nicht mehr gehen, da sie Angst davor hatte, vergewaltigt zu werden. Sie war es auch, die mir von den vielen Vergewaltigungen in Yangon erzählte, und davon, dass die Dunkelziffer enorm sei, da sich niemand traut, eine Vergewaltigung anzuzeigen. Ich habe dann selbst recherchiert und finde es besonders schockierend, dass weit mehr als die Hälfte der gemeldeten Vergewaltigungen in Myanmar Kinder betrifft.
In einem Land, in dem das Militär systematische Vergewaltigungen zur Vertreibung der Rohingya-Minderheit einsetzt und auch in der Gesellschaft das sogenannte „victim-blaming“ vorherrscht, ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Bereitschaft zur Anzeige derartiger Verbrechen nicht besonders groß ist. Dennoch steigt die Zahl der gemeldeten Fälle von Jahr zu Jahr, was nicht zuletzt auf die Arbeit vieler NGOs zurückzuführen ist, die durch Aufklärungskampagnen das Bewusstsein für sexuelle Gewalt schärfen und vorherrschende Stigmata aufzubrechen versuchen. Die Bemühungen der NGOs tragen bereits erste Früchte, denn bis vor kurzem genossen Vergewaltiger Straffreiheit. Das wurde nun geändert, und Vergewaltiger müssen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 20 Jahren rechnen. Ob und wie weit diese Verbrechen geahndet werden, ist natürlich wieder eine andere Frage. Dazu muss ich sagen, dass mein persönliches Sicherheitsempfinden nicht den Zahlen entsprach und ich mich vor allem im Zentrum von Yangon auch in der Nacht relativ sicher fühlte. Leere und dunkle Straßenzüge habe ich allerdings bewusst gemieden.
An dieser Stelle noch ein kleiner Exkurs zum Bildungssystem in Myanmar, denn ich denke, dieses Hintergrundwissen erklärt einiges. Das Bildungssystem in Myanmar hat den Ruf, eines der schlechtesten und ineffizientesten von ganz Asien zu sein. Es ist chronisch unterfinanziert, es fehlt an qualifiziertem Personal, und der Unterrichtsstoff wird hauptsächlich auswendig gelernt. Nach jahrzehntelanger Militärdiktatur ist eigenständiges Denken ein Fremdwort. Medienkompetenz, die im Zeitalter der Digitalisierung unumgänglich ist und bei uns bereits im Volksschulalter vermittelt wird, ist nicht existent. Das wurde mir in unzähligen Gesprächen mit gebildeten Leuten über die Rohingya-Krise bewusst. Es wurde nämlich mit großer Überzeugung und immer denselben Argumenten darauf beharrt, dass wir im Westen nur Fake News über die Rohingya-Krise erhalten und alle Anschuldigungen der westlichen Medien und Regierungen gegen das Militär an den Haaren herbeigezogen und frei erfunden sind. Die Tatsache, dass dies „gebildete“ Menschen waren, die aber alle ein und dieselbe Meinung vertraten und exakt dieselben Argumente verwendeten, hat mich stutzig gemacht. Da ich selbst „Critical Thinking“ unterrichte, mich ein wenig mit Filterblasen (individuell abgestimmte vorgefilterte Inhalte von Webseiten) und dergleichen auskenne musste ich dem natürlich nachgehen, und bin sofort (und wenig überraschend) auf Facebook gestoßen.
Myanmar ist nämlich einem regelrechten Facebook-Hype verfallen. Und wirklich: Kaum lernt man jemanden kennen, trudelt schon die Facebook-Freundschaftsanfrage herein. „Facebooken“ scheint zur Lieblingsbeschäftigung vieler Burmesen zu gehören. Das ist ja an sich nichts Außergewöhnliches, denn auch bei meinen Studierenden in Österreich hat „Facebooken“ längst das persönliche Pausengespräch ersetzt. (Nicht selten sitze ich in der Pause 20 Studenten gegenüber, die still nebeneinander sitzend und nur den Daumen bewegend auf ihre Handys starren.) Doch die Zahlen in Myanmar schockieren: 85% des gesamten Internetverkehrs in Myanmar wird über Facebook abgewickelt. Das bedeutet, dass die meisten Menschen, die das Internet verwenden, NUR Facebook verwenden und auf diesem Wege auch die meinungsbildenden Informationen und Nachrichten erhalten. Viele haben weder von Suchmaschinen wie Google gehört, noch verwenden sie andere Websites zur Informationsrecherche.
In Myanmar ist Facebook also tatsächlich das Internet. Das schockiert ist, aber angesichts der Geschichte des Landes nicht weiter verwunderlich. Immerhin dümpelte das Land bis 2010 völlig abgekapselt von der Welt vor sich hin. Gmail, Skype und Google, sowie viele weitere Websites waren entweder gar nicht oder nur sehr beschränkt zugänglich. Eine SIM-Karte kostete bis 2010 noch mehrere tausend Dollar. Dann wurde das Handynetz massiv ausgebaut, die Preise purzelten und mittlerweile kann man chinesische Smartphones an jeder Straßenecke um billiges Geld kaufen. Ich habe im Februar 2018 eine SIM-Karte für weniger als 1 EURO erstanden. Myanmar war plötzlich online – von null auf hundert sozusagen, aber auf ein und demselben Gerät: dem Handy, auf dem Facebook vorinstalliert ist und Userprofile bereits angelegt sind. Ohne große digitale Vorkenntnisse wurde so plötzlich Millionen von Menschen der Rest der Welt zugänglich gemacht. Mittlerweile verfügen viele Burmesen gleich über mehrere Handys und Userprofile, je nach Zweck und Absicht (z.B. privat, zur anonymen Teilnahme an Online-Diskussionen, …).
Die Gefahren für eine freie Meinungsbildung liegen auf der Hand. Die Menschen haben den reflektierten Umgang mit Internet-Ressourcen nie gelernt; sie wissen nicht, wie man im Internet nach Informationen sucht, diese verifiziert oder falsifiziert, sie mit alternativen Inhalten vergleicht, Halbwahrheiten und Fake News auf die Schliche kommt, und dergleichen. Facebook bietet daher den perfekten Nährboden für Shitstorms und Hasstiraden, Gerüchte, Halbwahrheiten und Lügen verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Auch wir sind nicht gefeit vor Filterblasen und Algorithmen, die darüber entscheiden, welche Informationen wir erhalten, und wie viel über welche Thematik berichtet wird (wie viele von euch erinnern sich zum Beispiel an den zerstörerischen Zyklon Nargis, der im Jahr 2008 mit bis zu 215 km/h über das Ayeyarwady-Delta nördlich von Yangon fegte und mehr als 140.000 Menschen das Leben kostete?) Eine Tragödie dieser Größenordnung auf europäischem oder nordamerikanischem Boden würde sich jahrzehntelang in das kollektive Gedächtnis der Menschen einbrennen. Der Weg zu einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft in Myanmar ist noch weit. Wenn die Regierung zur Deeskalation realer Konflikte beitragen will, wird sie nicht darum herumkommen, der Vermittlung von Medienkompetenz eine vorrangige Rolle im Bildungssystem einzuräumen.
Dieses Hintergrundwissen verdeutlicht den langen Weg, den dieses von Armut gebeutelte Land noch vor sich hat. Als Bildungswissenschaftlerin bin ich davon überzeugt, dass der Weg aus der Armut nicht an Bildung vorbeiführt. Ich hoffe, ich konnte mit meinen Gesundheitsbildungs-Workshops einen kleinen Beitrag dazu leisten und bin stolz, um eine wertvolle Erfahrung reicher zu sein. Auch wenn es (besonders am Anfang) sehr anstrengend war, die Tage lang und vollgepackt mit Workshops am Vormittag und Nachmittag, die Dolmetscher gebrieft und koordiniert, die Unterlagen sortiert und die Utensilien für die Workshops auf- und abgebaut werden mussten, war es eine bereichernde Erfahrung, die ich um nichts in der Welt missen möchte. Die Herzlichkeit und Gastfreundschaft, mit der ich empfangen wurde – sowohl von den SONNE-Mitarbeitern vor Ort, als auch den vielen Workshop- TeilnehmerInnen – war schlicht und ergreifend umwerfend. Myanmar ist eines von vielen Ländern, die ich in Asien bereist habe, aber es hat einen besonderen Platz in meinem Herzen eingenommen.
Ganz zum Schluss möchte ich mich noch bei den vielen Menschen und auch bei einigen Firmen, die zu diesem Projekt beigetragen haben, bedanken:
- Dank der großzügigen Spende der deutschen Firma MeLuna® konnten wir 100 Menstruationstassen an Frauen und Mädchen verteilen, nachdem sie über deren Vorteile im Umgang mit der monatlichen Menstruationshygiene informiert wurden.
- Ebenso konnte ich von der Firma Kiss Condoms in Myanmar eine Spende von 700 Kondomen lukrieren, welche wir bei den Workshops verteilten.
- Alle Workshopteilnehmer erhielten zudem ein Hygienepaket (bestehend aus Zahnpasta, Zahnbürste, Seife, ORS, Unterhosen, etc.), welche durch Spenden aus meinem Freundeskreis finanziert wurden. Ein großes Dankeschön nochmal an alle, die sich hier so großzügig gezeigt haben!
- Bei der Vorbereitung der Workshop-Unterlagen hatte ich Unterstützung von zwei Master-Studierenden der FH Burgenland, wo ich als Hochschullehrende im Gesundheitsdepartment arbeite. Danke!
- Danke an die Grazer Wunderweiber, die mich mit Sachspenden unterstützt haben!
- Nicht zuletzt ein riesengroßes Dankeschön an meine Familie, die daheim die Stellung gehalten hat!